Die schöpferische Urkraft der Sexualität

Was für eine gewaltige Kraft muss hinter Energien und Aktivitäten stehen, die neues Leben entstehen lassen kann? Sexualität fesselt all unsere Sinne, unsere Emotionen und selbst unseren Geist. Sexualität verlockt, betört und vereinnahmt jede Faser unseres Körpers und nimmt unsere Gefühle gefangen. Lustvolle Sexualität begleitet uns ein Leben lang, wenn auch, je nach Alter und Lebenssituation, in unterschiedlicher Intensität. Sexuelle Aktivitäten können mit der Zeugung eines Kindes nicht nur neues Leben entstehen lassen, Sexualität hat auch die Kraft, bestehendes Leben zu verjüngen.

Doch trotz ihrer archaischen Kraft verlangt eine erfüllende Sexualität einen achtsamen und bewussten Umgang mit diesen intensiven Energien, eine seelische und emotionale Reife. Fehlt dieser Bewusstseinsaspekt, kann unkontrollierte und fehlgeleitete Sexualenergie zu Energieverschwendung, grosser Verwirrung und tiefgreifenden Verstrickungen und Verletzungen führen.

Shukra – das feinste aller Körpergewebe

Das Sanskrit-Wort Shukra beschreibt im Ayurveda einerseits das feinste aller Körpergewebe (Dhatu) und begegnet uns in der vedischen Astrologie Jyotish als Planet Venus (Shukra). Der strahlend helle Planet Venus steht u.a. für Schönheit, Ausstrahlung, Kunst, Wohlstand sowie für ein reiches, emotionales und sinnliches Leben, für Fruchtbarkeit und Sexualität. Daher ist es nicht erstaunlich, dass dasselbe Wort Shukra sowohl für den erdnahen Planeten wie auch für das 7. Körpergewebe verwendet wird.

Der Ayurveda beschreibt detailreich, wie sich die eingenommene Nahrung im Körper in mehrstufigen Verdauungsprozessen von gröber bis zu allerfeinst transformiert und nacheinander sieben verschiedene Körpergewebe nährt. Dabei ist jedes der sieben Dhatus von der Funktionsfähigkeit des vorherigen abhängig.

Shukra ist das differenzierteste aller Körpergewebe, die reine Essenz, die neues Leben erschaffen kann. Für eine gesunde Sexualität und allgemeine Vitalität ist ein starkes Shukra Dhatu essentiell. Shukra wird von den Keimzellen repräsentiert. Das Fortpflanzungsgewebe wird in der ayurvedischen Fachliteratur als «flüssig, ölig, kühl, dicht, süsslich» und «dem Wasserelement zugehörig» beschrieben. Beim Aufbau von Shukra spielt auch die feinstoffliche Glückssubstanz Ojas eine wichtige Rolle. Ojas entsteht als Ergebnis einer guten Verdauung, glücklicher Gedanken und eines reinen, spirituellen Lebens.

Sexualität ­ein natürliches Grundbedürfnis

Der Ayurveda betont, dass keinerlei natürliche Bedürfnisse unterdrückt werden sollen. Caraka, der berühmte ayurvedische Gelehrte, formulierte, das Unterdrücken der natürlichen Bedürfnisse – dazu gehören auch der Samenerguss, der Orgasmus und generell die Sexualität – führten zu diversen Krankheiten. Die Unterdrückung natürlicher Triebe oder auch ein Mangel an sexuellen Aktivitäten können zu tiefliegenden Frustrationen mit unerwünschten Verhaltensweisen führen. Menschliches Wohlergehen hängt direkt mit einer erfüllten Sexualität zusammen. Nicht äussere Normen, Moralvorstellungen und Gepflogenheiten sind bei der Sexualität massgebend, sondern einzig das Wohlbefinden auf körperlicher und emotionaler Ebene.

Vata, Pitta und Kapha – Liebe ist vielfältig

Auch das Thema Sexualität betrachtet der Ayurveda differenziert und ganzheitlich. So bestehen verschiedene hilfreiche Anweisungen zu Häufigkeit und Zeitpunkt für sexuelle Aktivitäten. Ebenso wird den Eigenheiten der drei Konstitutions-(Dosha)Typen Rechnung getragen.

Nach Typen

  • Die zarten, sensiblen Vata-Typen sollten höchstens 1-2-mal pro Monat Sex haben.
  • Die kräftigen, ausdauernden Kapha-Typen dürfen 2-3-mal pro Woche Sex geniessen.
  • Den feurigen, zielorientierten Pitta-Typen wird Sex alle 2 Wochen empfohlen.

Nach Tageszeiten

  • Als beste Zeit für körperliche Liebe soll laut Ayurveda die Zeit zwischen 22 – 23 Uhr sein.

Nach Jahreszeiten

  • Im Winter (November bis Februar) darf man sexuell aktiv sein, sooft man dies wünscht.
  • Im Frühling und Herbst (März/April und September/Oktober) empfehlen die ayurvedischen Schriften nur jeden 4. Tag Sex.
  • Im Sommer (bei über 32 °C Hitze), wenn der Körper stark gefordert ist, nur alle 2 Wochen.

Zu häufiger Sex schwächt den Menschen und verringert die subtile Vitalenergie Ojas. Ausserdem wird Vata (Apana Vata) stark angeregt und erhöht.

Nachlassen der Sexualkraft – vielfältige Ursachen

Eine erfahrene Ayurveda Ärztin, ein gut ausgebildeter Ayurveda Heilpraktiker kann mittels ayurvedischer Pulsdiagnose u.a. den Zustand der sieben Dhatus (Körpergewebe) erfühlen. Ein schwaches Shukra Dhatu kann Hinweis für ein Nachlassen der Sexualkraft sein. Dafür können verschiedene Ursachen wie hormonelle Störungen, Stress, körperliche und geistige Erschöpfung, psychische Belastungen oder ein hohes Lebensalter verantwortlich sein. Oft geht ein geschwächtes Shukra Dhatu mit einem blockierten Rasa Dhatu (Plasma Gewebe) sowie den belasteten Subdoshas Prana Vata (sorgenvoller Geist, Ängste) und Sadhaka Pitta (Herzschmerz, Liebeskummer, Trauer) einher.

Eine geschwächte Sexualkraft kann nervliche Erschöpfung und eine schwache Widerstandskraft zufolge haben und daher den Alterungsprozess beschleunigen.

Vajikarana (Aphrodisiaka) und Rasayana (Verjüngungsmittel) – Regeneration und Lebensenergie

Da Shukra das einzige Gewebe ist, das den Körper verlässt (beim Geschlechtsverkehr), kann dieser Verlust zu einer Schwächung des Organismus führen. Daher empfiehlt der Ayurveda die Einnahme spezifischer Nahrungsmittel, Kräuter und Mineralien; besonders zur Stärkung und zum Wiederaufbau des Shukra Dhatus. Diese natürlichen Substanzen werden als Vajikarana (Aphrodisiaka) bezeichnet und dienen der Steigerung der sexuellen Lebenskraft. Ebenso wie die ayurvedischen Verjüngungsmittel (Rasayana) werden die Vajikarana in der traditionellen ayurvedischen Literatur ausführlich beschrieben.

Lebensmittel und Kräuter, die das Shukra Dhatu fördern (sattvisch, nährend, befeuchtend, kühlend):

  • Naturbelassene Milch (Dattel-Milch, Mandel-Milch)
  • Ghee, Butter, Frischkäse
  • Natürliche Zuckerarten, Sharkara (ayurvedischer Rohrzucker), Honig
  • Süsse Früchte, Feigen, Rosinen, Granatapfel
  • Nüsse, Mandeln, Cashews, Sesamsamen
  • Spargel, Broccoli, Süsskartoffeln
  • Ajwain, Kreuzkümmel, Kurkuma, Schwarzkümmel, Safran, Muskatnuss, Pippali etc.
  • Shatavari, Amalaki, Aloe Vera, Rose, Ashwagandha, Bala, Gokshura etc.

«Heute lieber nicht». Wann sollte auf Sex verzichtet werden?

Es gibt Situationen, wo aus gesundheitlichen Gründen besser auf sexuelle Aktivitäten verzichtet werden soll. Dabei stehen die körperlichen und energetischen Folgen und weitere unerwünschte Auswirkungen im Vordergrund. Zurückhaltung beim Sex oder Abstinenz resultieren aus einer ganzheitlichen Betrachtungsweise unter Einbezug von Gesundheitszustand, Lebenszyklus, Konstitutions-Typ oder Alter.

  • So kann beispielsweise der Verlust von Flüssigkeiten während des Geschlechtsverkehrs für den (oft unter Trockenheit leidenden) Vata Typ problematisch sein, für den (von den Elementen Wasser und Erde dominierten) Kapha Typ sogar vorteilhaft.
  • Während der Menstruation sollte auf Sex verzichtet werden, da dadurch Vata angeregt wird und die abwärts gerichtete, reinigende Energie (Apana Vata) gestört würde.
  • Auch bei Krankheit wird von sexuellen Aktivitäten abgeraten.
  • Ebenso nach intensiven körperlichen Anstrengungen oder wenn man durstig und hungrig ist, sollte man Sex noch eine Weile verschieben und sich zuerst erholen.
  • Sexuelle Vereinigung gründet auf Liebe und Zuneigung, auf Rücksicht und Zärtlichkeit. Deshalb betonen die ayurvedischen Schriften auch, dass Partner nur zusammen schlafen sollen, wenn sie dies auch leidenschaftlich wünschen.

Doch bei einvernehmlichen Spielereien ist es glücklicherweise oft wie beim Essen, ­der Appetit stellt sich dann meist schon noch ein.

Unterschiedliche Lebenspläne

Spiritualität und Sexualität schliessen sich keineswegs aus – vielmehr bildet ein erfülltes körperlich-sinnliches Leben für viele Menschen die Basis für ein hoch entwickeltes, bewusstes Dasein. Wer sich jedoch für ein enthaltsames Leben entscheidet und die schöpferische Urkraft der Sexualität vollumfänglich in spirituelle Energien transformiert, findet Bestätigung darin, dass auch dessen Lebensplan in die grosse Vielfalt der Schöpfung passt.

Auf einen Blick

  • Der Ayurveda betrachtet Sexualität umfassend und ganzheitlich
  • Sexualität ist eine Urkraft, die uns ein Leben lang begleitet
  • Sexualität hat die Kraft, bestehendes Leben zu verjüngen
  • Eine erfüllende Sexualität benötigt einen achtsamen und bewussten Umgang und eine seelische und emotionale Reife
  • Shukra benennt den Planeten Venus und das feinste Körpergewebe (Dhatu)
  • Vata, Pitta und Kapha haben unterschiedliche Voraussetzungen und Bedürfnisse
  • Menschliches Wohlergehen hängt direkt mit einer erfüllten Sexualität zusammen
  • Einem Nachlassen der Sexualkraft kann mit Nahrungsmitteln und Kräutern begegnet werden
  • Ayurvedische Empfehlungen zu sexuellen Aktivitäten verhelfen zu mehr Wohlbefinden
Ayurveda und Sexualität

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